Dieser Wutanfall von meinem Kind ist jetzt aber nicht mehr „normal“…

Oder doch?

Ein Gastbeitrag von Anke Eyrich

Es gibt Momente, da toben und wüten unsere Kinder derartig, dass wir sehr schnell und für uns eindeutig den Eindruck haben: „dieser Wutanfall meines ist jetzt aber nicht mehr normal“

Mit meinem Mann gab es hin und wieder Diskussionen, in denen wir uns gefetzt haben, was jetzt „normal“ ist an dieser Wut unseres Kindes und was nicht, oder einer von uns beiden wollte den Wutanfall stoppen und hat z.B. versucht, unser Kind abzulenken, obwohl wir uns viele Male zuvor sicher waren, dass das eindeutig ein Zerbrochener-Keks-Moment war (Das sog. zerbrochene Keks Phänomen kommt aus dem Aware Parenting und beschreibt den Zustand, dass Kinder aus unserer Sicht wegen einer Nichtigkeit einen Wutanfall bekommen. Die Nichtigkeit ist allerdings der Auslöser für das Entlasten von angestautem Stress und nicht der eigentliche Grund für den Wutanfall.)

Wie kommen wir Eltern zu dieser Beurteilung eines Wutanfalls? Was steckt dahinter?

Ich denke, es ist vielschichtig und ich möchte es daher von verschiedenen Seiten beleuchten:

Zweifel an der Entlastung durch Wut

Wir können uns in solchen Situationen fragen, ob es in uns Zweifel an der Entlastung durch Wut gibt. Vielleicht war der Anlass eine „Mücke“ und der nun stattfindende Wutanfall unseres Kindes entwickelt sich zu einem „Elefanten“ – einem riesigen „Elefanten“.
Dann ist es ja auch wirklich ein großer innerer Schritt, den wir Eltern in diesem Moment tun müssen, wenn wir uns entscheiden, dass unser Kind seine Wut rauslassen darf, um dadurch vom Stress zu entlasten. Dieser Schritt kommt uns dann vielleicht wie ein Sprung über einen Abgrund vor, während in diesem Abgrund unser Zweifel (ob es richtig ist, den Wutanfall zuzulassen) nur so brodelt.

Druck von außen

Noch mehr genährt werden unsere Zweifel, wenn wir von Außenstehenden noch mit Fragen oder Bemerkungen verunsichert werden, eben solche wie oben: „dieser Wutanfall ist jetzt aber nicht mehr normal?“ Oder es gibt Aussagen wie: „Dieses Verhalten musst du aber deinem Kind sofort abgewöhnen!“

Unser eigenes Stresslevel ist zu hoch

Nicht nur Kinder haben Wutanfälle. Auch wir Eltern würden gerne mal wüten

Oftmals können wir einen heftigen Wutanfall auch nicht aushalten, wenn wir nicht aufgetankt sind. Das ist dann der Fall, wenn unsere Ressourcen aufgebraucht sind, wir zum Beispiel dringend eine Nacht bräuchten, in der wir mal wieder durchschlafen könnten, anstatt ständig von unseren Kindern geweckt zu werden. Dann schreit alles in uns nach „lasst mich doch einfach alle in Ruhe – und mit deiner Wut kannst du gleich dahin, wo der Pfeffer wächst“. (Anmerkung für alle Teilnehmer des Starke Gefühle bei Kindern Kurses: In Kurswoche 2 bespreche ich ausführlich die Kraftquellen, vielleicht tut es euch gut, diese nochmals anzuhören 😉 )

Unser eigenes Stresslevel ist zu hoch oder mit dem Bild aus dem Kurs: Unser eigenes Fass ist voll und läuft über, sobald unser Kind anfängt zu brüllen. Wir bräuchten eigentlich auch einen Wutanfall und warum also – so fragen wir uns vielleicht unbewusst – darf jetzt unser Kind wüten und wir nicht. Dabei wäre es uns doch ebenso nach auf den Boden werfen und laut brüllen.

Unsere eigenen Kindheitserlebnisse

Eine letzte wichtige Ebene, die ich in den Blick nehmen möchte, ist die unserer eigenen Kindheitserlebnisse. Diese Ebene ist uns meist nicht bewusst und spielt sich in unserem Inneren ab, oftmals ohne dass wir es bemerken.
Also konkret könnte das zum Beispiel für einen Papa bedeuten, dass jedes Mal, wenn sein Sohn oder seine Tochter einen Wutanfall bekommt, sein Kindheitserlebnis wieder in ihm „aufpoppt“. Und zwar weil er selbst als Kind erlebt hat, dass er nie wüten durfte, weil er sonst eine deftige Strafe bekommen hat.
Oder ihr könnt euch das auch folgendermaßen vorstellen: Es ist euch als kleiner Junge oder als kleines Mädchen jedes Mal sobald ihr Wut gezeigt habt von euren Eltern verboten worden, diese raus zu lassen oder ihr seid sogar bestraft worden (z.B. mit Zimmerarrest oder – ganz schlimm – mit einer Tracht Prügel). Das war als Kind sehr bedrohlich für euch und daher habt ihr schnell gelernt, dass ihr eure Wut unterdrücken müsst, weil ihr große Angst vor der Reaktion eurer Eltern hattet oder vor Bestrafung.

Es war schnell klar – Wut ist gefährlich und ihr seid nicht sicher!

Dies ist tief in euch abgespeichert, weil ihr es meist über Jahre hinweg, oft während der ganzen Kindheit so erlebt habt. Allerdings – bei jedem Wutanfall eurer eigener Kinder kann euer Erleben aus eurer eigenen Kindheit wieder aktiviert werden. Es wird aber meistens nicht so aktiviert, dass ihr euch bewusst daran erinnert, sondern dieser Prozess läuft quasi unterschwellig und das macht es so schwierig. Ihr habt so sehr gelernt, eure Wut zu unterdrücken, dass ihr es nun (unbewusst!) auch bei eurem Kind nicht zulassen könnt. Es ist wie eine Programmierung in euch, die automatisiert abläuft und die euch sagt: „Wut ist gefährlich – ich bin nicht sicher -> also ALARM in eurem System – Achtung: Wut beim Kind auch auf jeden Fall unterdrücken!“

Das Unterdrücken der Wut von Kindern kann sehr vielfältig sein. Es passiert durch Ablenken vom Weinen oder Wüten, durch verbieten, schimpfen, mit Strafe drohen (oder sogar mit bestrafen), durch auslachen oder lächerlich machen der Wut oder durch Belohnung, wenn das Kind aufhört zu wüten. Ebenso mit dem Abwerten des Wutanfalls in dem ihr sagt, dass dieses Verhalten nicht mehr normal ist.

Nun was tun?

Wenn du dich dabei ertappst, dass du den Wutanfall deines Kindes unmöglich findest, überprüfe als erstes deinen Stresslevel und deine Kraftquellen. Was bräuchtest du jetzt oder in den nächsten Tagen am meisten: Auszeiten für dich, Schlaf, einen Babysitter, öfter am Tag fünf Minuten die Beine hochlegen, Zeit für euch als Paar, Unterstützung im Haushalt, Zeit für deine Hobbys usw. … und schau, wie du dir etwas davon regelmäßig ermöglichen kannst. Es ist so wichtig!

Wenn du eher Zweifel am Zerbrochenen-Keks-Syndrom hast, könnte es gut tun, wenn du dich mit Aware Parenting abermals beschäftigst. Für alle Teilnehmer des  Starke-Gefühle-Kurs: Ihr könntet nochmals  Teile aus dem Kurs anschauen. Vor allem die Grundlagen von der ersten und zweiten Kurswoche können nicht oft genug gehört werden, damit sie verinnerlicht werden.

Wenn du eher deine Kindheitserlebnisse hinter deinen starken Reaktionen auf die Wut deines Kindes vermutest, würde ich dir folgendes vorschlagen: Sprich in einem ruhigen Moment mit deinem Partner / deiner Partnerin (oder einer anderen vertrauten Person) über deine Kindheit. Nehmt euch Zeit dafür und macht es euch so richtig gemütlich, um euch dann von eurer Zeit als Kinder zu erzählen. Hört euch aufmerksam zu und fragt behutsam nach. Gebt keine Ratschläge oder Bewertungen ab, sondern fragt höchstens nach den Gefühlen, die beim Erzählen der Erlebnisse da sind. Versucht euch vorzustellen, wie sich euer Gegenüber wohl als Kind gefühlt hat und lasst euch Raum für die Erinnerungen, die sich zeigen und erzählt werden wollen.

Des weiteren könntest du bei einem Wutanfall deines Kindes in etwa folgendes innerlich zu dir sagen (wähle gerne deine eigenen Worte): „Es ist NUR ein Wutanfall und der geht vorbei. Wut darf in unserer Familie ab jetzt ausgedrückt werden! Ich bin hier sicher, mein Kind ist sicher!“ Diese Sätze sind wie ein Mantra und dienen deiner inneren Umprogrammierung.

Und dann …
seid gespannt, was sich im Alltag mit euren Kindern verändert. Ich bin auch gespannt!

Von Published On: 14. August 2018

About the Author: Anke

Avatar-Foto
Damit Kinder gesund und glücklich wachsen können, ist es so wichtig, dass sie ihre Gefühle wie Lachen, Wüten, Traurig sein zeigen dürfen und wir sie darin begleiten und unterstützen. Das ist mir ein Herzensanliegen, denn es war für mich so hilfreich, als meine 3 Kinder noch klein waren und ich sie mit meinem Mann ins Leben begleiten durfte. Als Sozialpädagogin und Familientherapeutin liegt mir die Begleitung von Familien sehr am Herzen und im Aware Parenting habe ich eine mir sehr wichtig gewordene Haltung Kindern gegenüber gefunden. In meiner Praxis (und auch immer noch in meiner eigenen Familie) erlebe ich das Gefühle ausdrücken als heilsam und verbindend zwischen den Eltern und Kindern. Es ist so viel einfacher, das Verhalten der Kinder zu verstehen und sie achtsam zu begleiten in ihrer Freude und Weinen oder Wüten, im Wachsen - sowohl körperlich, als auch seelisch und im sozialen Miteinander. Und so wie die Kinder wachsen, so wachsen wir Eltern auch!
Kommentarer abonnieren
Benachrichtung bei
guest
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments